G100

Lübecker Violadagamba Solo. G100, € 13,80.

Mit der Editionsnummer 100 wartet Güntersberg mit der Erstausgabe einer anonym überlieferten Sonata für Viola da gamba und Basso continuo d-Moll auf, die für mich zum musikalisch Schönsten gehört, das Komponisten im 17. Jahrhundert für unser Instrument schrieben. Der Überlieferungsweg des Manuskriptes ist einer genaueren Betrachtung wert, weil er Spekulationen um einen möglichen prominenten Autor des Werkes nährt: Die Bodleian Library der Oxford University bewahrt einen Sammelband auf, der etwa 1890 durch das Zusammenbinden von ca. 400 separaten Notenblättern aus dem Besitz des englischen Geigers und Komponisten James Sherard (1666-1738) entstand. Dazu gehören auch 6 Sonaten für Viola da gamba und Basso continuo, die von der Hand ein und desselben Kopisten stammen und (im Unterschied zu den meisten Manuskripten des Sammelbandes) in zweistimmiger Partiturform geschrieben sind. Als Komponisten werden jeweils am Beginn eines Werkes genannt: 1. Giovanni Schenck, 2. Giovanni Schenck, 3. Martino Radack, 4. Davidt Adam Baudringer, 5. Diederich Buxtehude. Bei Nr. 5 handelt es sich um die einzige bekannte Quelle zur Sonata D-Dur (BuxWV 268), die Güntersberg bereits im Verlagskatalog hat (G065). Nr. 6 nennt keinen Urheber des Werkes. Unsere Neugier würde sich vermutlich in Grenzen halten, wäre der musikalische Gehalt der Sonata nicht so einzigartig. Radack, Baudringer und Buxtehude bilden durch ihre Anstellungen in Lübeck und/oder ihre Personalverbindungen eine gemeinsame musikalische Provenienz. Dies gilt auch für Peter Grecke, dessen 5 Suiten für zwei Violen da gamba ebenfalls aus der Hand des genannten Kopisten im benachbarten Sammelband überliefert sind. Dieser uns nicht namentlich bekannte Schreiber übermittelt also offensichtlich Lübecker Gambenrepertoire.

Das anonyme Werk setzt sich aus einer Fantasia, einer ausgedehnten Ciaconna und einem kadenzartigen Schlußteil zusammen. Der weite Tonumfang der Baßgambe wird sowohl im Werk selbst als auch in Einzelfiguren meisterlich genutzt. Beim Musizieren des Werkes (ich bevorzuge eine Orgel als Continuoinstrument) drängen sich Vergleiche zu Buxtehudes Instrumentalmusik auf, ja, es gibt häufig eine auffallende Verwandtschaft in der Tonsprache. Warum hat der Kopist nur zu dieser Sonate keinen Komponisten vermerkt? War ihm der Autor tatsächlich unbekannt oder - eine bereits vor 1890 bestehende Reihenfolge der 6 genannten Manuskripte unterstellt - hielt er die Namensnennung für überflüssig, weil es sich um ein Folgewerk des zuvor vermerkten Komponisten handelt? Zugegeben, eine gewagte These, denn dann wäre Buxtehude der Urheber des Werkes - aber der Verdacht würde ihm wohl schmeicheln.

Thomas Fritzsch,
Viola da Gamba Mitteilungen Nr. 64 - Dezember 2006